- provenzalische Literatur
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die südfranzösischen, in den verschiedenen Mundarten der Region (provenzalische Sprache) abgefasste Literatur, auch okzitanische Literatur genannt.Herausragende Bedeutung für die volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters sowie die Dichtung F. Petrarcas und seiner europäischen Nachahmer erlangte die provenzalische Literatur durch ihre Lyrik, die seit etwa 1100 ein außergewöhnlich reiches Spektrum umfasste: Sie reichte vom volkstümlichen und gelehrten, hohen und niederen Minnelied über die Spott- und Disputationsdichtung bis hin zum politischen Kampfgedicht. Schöpfer und zum Teil auch Sänger dieser Literatur waren die »trobadors« (Troubadour). Die epische altprovenzalische Literatur brachte moralisch-didaktische und hagiographische Texte hervor (so den von Boethius-Viten und dem »Trost der Philosophie« des Boethius inspirierten fragmentarischen »Boeci«, um 1070; die Vita der heiligen Fides von Agen, »Chanson de Sainte Foy«, um 1060) sowie von der antiken oder der Zeitgeschichte beeinflusste, zum Teil fragmentarisch überlieferte Dichtungen, so die erste volkssprachliche, um 1120 in Frankoprovenzalisch abgefasste Version des Alexanderromans von Albéric de Besançon (»Alexandre«), das Vasallenepos »Girart de Roussillon« (12. Jahrhundert) und das Heldenlied »Canson de la crozada« (um 1230) vom Kreuzzug gegen die Albigenser von Guilhem de Tudela (erster Teil) und einem Anonymus (zweiter Teil). Die höfische Dichtung des Artuskreises war vertreten durch den anonymen Versroman »Jaufré« (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) und das Bruchstück des Romans »Flamenca« (entstanden um 1240). Versnovellen verfassten Raimon de Miraval, Arnaut de Carcassès (13. Jahrhundert) u. a.; zur Novellenliteratur zu rechnen sind auch einige der Troubadourbiographien (Vidas). Im 13. Jahrhundert wurden Heiligenlegenden, Marienklagen, Tugendlehren, Anstandsbücher für die Stände und ein Lehrgedicht über die Falkenjagd in Versen verfasst, in Prosa die für das formale Verständnis der Troubadourlyrik wichtigen Grammatiken »Razos de trobar« von Raimon Vidal de Besalú und »Donatz proensals« von Uc Faidit; um 1340 entstand die Regelpoetik »Leys d'amors«, redigiert vom Kanzler der tolosanischen Dichtergesellschaft »Consistori de la Subregaya Companhia del Gai Saber«, Guilhem Molinier. Das Schauspiel wird in der altprovenzalischen Literatur vertreten durch das liturgische, lateinisch-romanische Drama »Sponsus«; im 15. Jahrhundert entstanden Mysterienspiele. - Die Albigenserkriege (1209-29) bedeuteten das Ende der höfischen Kultur auf provenzalischem Boden; trotz der Jeux floraux kam die altprovenzalische Dichtung nahezu völlig zum Erliegen. Örtlich verstreute und zeitlich unzusammenhängende neue Ansätze im 16., 17. und 18. Jahrhundert blieben folgenlos.Eine neue Blüte der provenzalischen Literatur ging Anfang des 19. Jahrhunderts von Marseille aus. Die Dichter, die sich u. a. in den Anthologien »Lou bouquet provençau« (1823) und »Li prouvençalo« (1851) zusammenfanden, bemühten sich um eine Renaissance der Troubadourdichtung und betonten den Eigenwert der provenzalischen Sprache. 1854 schlossen sich unter Leitung von F. Mistral die neuprovenzalischen Dichter (Félibres) zur Bewegung des Félibrige zusammen und leiteten damit eine Wiedergeburt der provenzalischen Literatur ein. Nach einer Phase der Festigung und Ausweitung des mistralschen Konzeptes durch Antonin Perbosc (* 1861, ✝ 1944) und Prosper Estieu (* 1860, ✝ 1939) zeichnete sich der Beginn der Überwindung des Regionalismus und der historisierenden Orientierung Mistrals in den Werken Luisa Paulins (* 1888, ✝ 1944), Jules Cubaynes' (* 1893, ✝ 1975) und Henry Moulys (* 1896, ✝ 1981) ab. Den Anschluss an den Reflexionsstand der europäischen Literaturen markiert René Nellis (* 1906, ✝ 1982) 1944 erschienene Anthologie »Jeune poésie d'oc«. Nun wurden auch die großen Strömungen (so der Surrealismus) und Themen der modernen Literatur - Angst, Einsamkeit, Zerstörung, Wertwandel und Identitätssuche - Gegenstand der lyrischen, epischen und dramatischen Dichtung in provenzalischer (okzitanischer) Sprache, v. a. durch Max Roqueta (französisch Rouquette, * 1908), Max Allier (* 1912), Joan Bodon (französisch Boudou, * 1920, ✝ 1975), Robert Lafont (* 1923), Bernard Lesfargues (* 1923), Yves Roqueta (französisch Rouquette, * 1936) und Michel Chapduelh (französisch Chadeuil, * 1947). Durch die stärkere Einbeziehung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Konflikte in die Literatur fand besonders das literarische Chanson in okzitanischer Sprache ein breites, internationales Publikum (Claude Marti, * 1940).C. Camproux: Histoire de la littérature occitane (ebd. 1971);J. Rouquette: La littérature d'oc (Paris 31980);J. Fourié: Diccionari de la literatura occitana audenca. Dictionnaire de la littérature occitane audoise (Béziers 1982);U. Mölk: Trobadorlyrik. Eine Einf. (1982);Vingt ans de littérature d'expression occitane 1968-1988. Actes du colloque international, bearb. v. P. Gardy u. a. (Montpellier 1990).Weitere Literatur: Félibres, Troubadour.
Universal-Lexikon. 2012.